Die Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr stand 2013/2014 kurz vor der Schließung. 98% der Kinder erreichten im Bereich ‚Zuhören‘ lediglich die Kompetenzstufe 1 in den Vera-Vergleichsarbeiten und nur noch zwölf Kinder wollten sich an der Schule anmelden. 2023 gewann die Schule den Deutschen Schulpreis.
Diese Entwicklung in nur zehn Jahren hat viele Gelingensbedingungen, aber zentral ist der partizipativ gestaltete Schulentwicklungsprozess.
1. Wichtige Schritte
Zu Beginn: annehmen, was ist - wertungsfrei
Unsere Schule wurde zu Beginn den ihr anvertrauten Kindern nicht mehr gerecht und die Erwachsenen arbeiteten zufällig gut oder nicht. Sie arbeiteten mit geringen Selbstwirksamkeitserfahrungen im Lehren und Lernen nebeneinander her. Veränderung oder Aufgabe der Schule waren die einzigen Optionen.
Tiefgreifende Veränderungen benötigen große Hoffnungen und eine hohe Attraktivität, damit sie entstehen können. Denn sie kosten viel Energie und werden von Menschen nicht leicht angenommen. Um sich darauf einzulassen, ist zunächst einmal ein Abschied nehmen von Gewohntem wichtig. Ebenso bedeutsam ein Anerkennen der Arbeits- und Lebensleistung der Menschen in der Schule, die in etablierten Strukturen häufig individuell jahrelang ihr Bestes gegeben haben ohne Erfolg und Anerkennung. Sie benötigen zunächst Raum und Zeit, um angst-und wertfrei über das vielleicht Geliebte und Gewohnte zu sprechen. Die Zeit, Abschied zu nehmen von dem, was nicht mehr lernwirksam ist, ist bedeutsam für einen guten Start in Neues.
Empathie für die Situation und das Ermutigen und Begeistern für eine Schule, die es noch gar nicht gibt, sind der erste Schritt. Die Fragen „Was braucht ihr?“ und „Wovon träumt ihr?“ sind wirkmächtige Einladungen, partizipativ und gemeinsam neue Wege zu gehen. Das Vertrauen in die Möglichkeit, mitgestalten zu können, muss vom Team erworben werden. Verlässlichkeit, Kompetenz, Transparenz, Menschlichkeit und Authentizität sowie das Bestreben, alle mitzunehmen, sind wichtige Anker im Leitungshandeln zu Beginn einer partizipativen Schulentwicklung.
2. Träume wecken – das Why
Die Ausformulierung, welche Schule wir sein wollen, die Leitbildarbeit, die sich an den Zielen der Zukunft orientiert, wurde auf pädagogischen Tagen partizipativ auch mit Eltern entwickelt. ‚Was ist in der Zukunft wichtig?‘ und ‚Welche Idee von gutem Lernen und Leben haben wir?‘ waren die Diskussionspunkte, die unser Leitbild und unsere Leitsätze prägten. Welche Glaubenssätze teilen wir? Ein schneller Konsens wurde gefunden in der These, dass wir (die Erwachsenen) selbst Lernerinnen und Lerner bleiben müssen, damit wir gut Lernen initiieren und begleiten können. Hier entwickelten sich direkte Ableitungen für Organisations- und Personalentwicklung, als wir dieses Weiterlernen der Erwachsenen im Dienste der Kinder als zentralen Moment festgehalten haben: Wir müssen eine lernende Organisation werden.
3. Arbeitsgruppen und Strukturen – das How
Wie lernen wir? Was orientiert uns? Was ist guter Unterricht und welche Folgen hat das für unser Tun? Kollaborativ und sukzessiv entwickelten wir:
- Feedback-Formate für unsere kollegialen Hospitationen,
- Barcamp-Formate, um uns untereinander fortzubilden,
- neue Formen der Hospitation (Meet-and-Twist),
- digitale Plattformen, um all unsere Arbeitsprozesse und Arbeitsergebnisse zu sammeln, zu strukturieren, zu teilen, zu organisieren und festzulegen,
- unser Schulkonzept auf Grundlage des Leitbildes mit der Überführung in ein strukturiertes Qualitätsmanagement (SMART, kurz-, mittel- und langfristige Schulentwicklungsziele)
- Qualitäts- und Reflexionsanker unseres Tuns (Qualitätskriterien des Deutschen Schulpreises mit Hospitationen und der Referenzrahmen Schulqualität NRW als Orientierung)
- schulische Steuergruppen mit Elternbeteiligung,
- wöchentliche Teamzeiten, die sich qualitativ und strukturell kontinuierlich weiterentwickelt haben
- tägliche Kontaktmöglichkeiten mit den Eltern als wichtige Partner und Aufbau vielfältiger Netzwerke
- Strukturen der Kinderbeteiligung (Klassenräte fest im Stundenplan, Wahlen, Kinderparlament mit Budget und Recht, in der Lehrerkonferenz Vorschläge einzubringen, Schulversammlungen vierteljährlich, Kinderrechte verankert im Curriculum)
- Strukturen der Partizipation im Unterricht für die Kinder (Wahlmöglichkeiten, interessengeleitete Angebote parallel zu den adaptiven und curricularen Bändern, Projektunterricht, Lernplanzeit, Selbsteinschätzung, individuelle Zeitpunkte der Lernzielkontrollen, EiS-Projekt (Engagement in Schule))
- Kindersprechzeiten, Kinderfeedback an uns täglich, auch strukturiert über Abfragen
- wenige, klare Regeln, die das Miteinander aller regeln, überall in der Schule
- strukturell verankerte Rückmeldung der Eltern an uns, auch digital und mehrsprachig
- Schaffung von Diskurs- und Informationsräumen für Eltern und ggf. Kinder vor jeder schulischen Veränderung
4. Beispiele für das What
A) Bilanzkonferenzen (Team)
Jedes Quartal sammelt das multiprofessionelle Team Aspekte, die Zufriedenheit oder Stolz auslösen und Aspekte, an denen wir noch arbeiten müssen. In einem strukturierten Verfahren bündeln und bewerten wir die Punkte, an denen wir arbeiten wollen. Über ein Think-Pair-Share-Verfahren bündeln alle ihre Punkte und Bedarfe und sortieren sie, indem sie überlegen, ob der Aspekt ein individueller oder ein systemisch geprägter ist. Ferner wird für beide Kategorien überlegt, ob dieser Aspekt ‘einfach und schnell’ zu lösen ist, ‘komplex oder kompliziert’ ist oder ob es sich um ein ‘totes Thema’ handelt (Probleme, die auf schulischer Einzelebene nicht zu ändern sind). Die Aspekte mit den Attributen ‘schnell und einfach’ werden direkt gelöst, indem Verantwortliche und Zeitpunkte festgelegt werden. Die komplexen oder komplizierten Sachverhalte gehen in die Steuergruppe über und werden ggf. mit einer Scrum-Gruppe bearbeitet. 'Tote Themen' werden als solche benannt und nicht weiter thematisiert und diskutiert.
B) Feste Murmelphasen jede Woche in der Teambesprechung zu einem Thema, ohne die Schulleitung stärken die Partizipation und Verantwortungsübernahme.
C) Veränderte Strukturen von Elternabenden (auch digital) unterstützen die Mitwirkungsmöglichkeiten der Eltern.
D) Feste Zeit (jede Woche 10 min nach Dienstbesprechungen), in der die Schulleitung im Raum sitzt und Anregungen und Kommentare annimmt und zuhört, ohne Bewertungen oder Lösungen anzustreben.
E) Offen einsehbares Qualitätsmanagement, in dem wir unser Können und Nichtkönnen offenlegen.
F) Feste Diskursräume und ausdrückliche Einladungen zum Feedback unter anderem auf der Schulversammlung eröffnen Kindern und Erwachsenen verlässliche und geübte Räume der freien Meinungsäußerung und Mitbestimmung.
Es bleibt festzuhalten, dass Leitung echte Partizipation und Feedback-Kultur ermöglichen sollte, indem sie sich selbst dem Feedback stellt und echte Verantwortungen teilt. Sie muss aber auch Mut haben, Setzungen vorzunehmen, damit die Potentialentfaltung der Kinder im Fokus des Diskurses bleibt. Diskussionen werden wann immer möglich auf der Basis fachwissenschaftlicher Erkenntnisse und nicht vor dem Hintergrund persönlicher Befindlichkeiten geführt. Auch sollte die Leitung eine lernende Organisation etablieren, die nur lernend wird und bleibt, wenn sie systematisch Prozesse der Kommunikation, Reflexion und Veränderung etabliert werden.
Ziele und Träume müssen initiiert werden; sie müssen attraktiv, machbar und realistisch sein, damit sie zur Umsetzung kommen. Hier sind die wöchentlichen verbindlichen Arbeitstreffen und Teamzeiten essenziell. Wenn kein Raum für Austausch und Synergien geschaffen wird, gibt es keine Qualitäts- und Systementwicklung. Dies ist ein Beispiel für eine notwendige Setzung, damit eine partizipative und qualitätsvolle Schulkultur entstehen kann.
Nicola Küppers, Schulleiterin
"Social Media"-Einstellungen
Wenn Sie diese Felder durch einen Klick aktivieren, werden Informationen an die nachfolgenden Dienste übertragen und dort gespeichert:
Facebook, X/Twitter, Youtube, Pinterest, Instagram, Flickr, Vimeo
Bitte beachten Sie unsere Informationen und Hinweise zum Datenschutz und zur Netiquette bevor Sie die einzelnen Sozialen Medien aktivieren.
Datenfeeds von sozialen Netzwerken dauerhaft aktivieren und Datenübertragung zustimmen: